3. Jahr des Angriffskriegs: Auswirkungen der Migrationserfahrungen auf die psychische Gesundheit geflüchteter Ukrainer*innen
- Nataliya Moeser
- 10. Nov. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Jan.

Nataliya Möser, 2024
Masterthesis (Vollversion)
Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und Psychologisches
Empowerment (M. Sc.)
der körperlichen und psychischen Verfassung sowie der Stand der beruflichen Integration von geflüchteten Ukrainern für die Verbesserung von Lebensqualität und sozialer Teilhabe. (PDF)
«Es gibt viele Gründe für Migration. Nur eins sollte es nicht geben - Krieg»
Einleitung
Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Jahr 2022 hat Europa eine der größten Flüchtlingsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Millionen von Menschen, darunter insbesondere Frauen und Kinder, haben ihr Heimatland verlassen und in europäischen Ländern Zuflucht gesucht. In D
eutschland leben mittlerweile über 800.000 Geflüchtete aus der Ukraine, was die Frage nach den psychosozialen Auswirkungen dieses massiven Migrationsprozesses in den Vordergrund rückt. Migration wird in der Forschung als einer der größten Stressfaktoren angesehen, insbesondere wenn sie unter gewaltsamen und traumatischen Bedingungen stattfindet (Silove et al., 1997; Steel et al., 2009). Die vorliegende Studie untersucht die Auswirkungen solcher Migrationserfahrungen auf die psychische Gesundheit geflüchteter Ukrainer*innen und nimmt dabei die besonderen Herausforderungen wie Traumata, berufliche Perspektiven und soziale Integration in den Fokus.
Forschungsstand
Frühere Studien haben gezeigt, dass Flüchtlinge, insbesondere solche, die vor kriegerischen Auseinandersetzungen geflohen sind, ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen wie posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und Depressionen aufweisen (Fazel et al., 2005; Lindert et al., 2009). Diese Störungen resultieren häufig aus den extremen Belastungen während der Flucht und den Herausforderungen, die mit dem Prozess der Integration im Aufnahmeland verbunden sind. Gleichzeitig wird der positive Einfluss von schützenden Faktoren wie sozialer Unterstützung und beruflicher Integration auf das psychische Wohlbefinden von Migranten betont (Berry, 1997). Trotz dieser Erkenntnisse fehlt es an spezifischen Untersuchungen, die sich auf die aktuelle Situation ukrainischer Flüchtlinge und deren subjektive Erlebnisse konzentrieren.
Forschungslücken und Forschungsziele
Die Forschung zu Migration und psychischer Gesundheit hat bereits eine Vielzahl von migrationsspezifischen Stressoren identifiziert. Allerdings gibt es in Bezug auf die spezifischen Erlebnisse ukrainischer Geflüchteter Forschungslücken, insbesondere im Hinblick auf die Verbindung zwischen traumatischen Erfahrungen, beruflicher Integration und mentaler Gesundheit. Es mangelt an empirischen Untersuchungen, die individuelle Bewältigungsstrategien und die Inanspruchnahme psychosozialer Unterstützung in den Mittelpunkt stellen. Diese Studie zielt darauf ab, diese Lücken zu schließen, indem sie qualitative Daten erhebt, um ein besseres Verständnis der individuellen Anpassungsprozesse, psychischen Belastungen und schützenden Ressourcen zu gewinnen. Die zentralen Forschungsfragen lauten:
- Welche Rolle spielen Traumatisierung und Migrationserfahrungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Geflüchteter?
- Wie beeinflussen berufliche Perspektiven und soziale Unterstützung das Wohlbefinden?
- Welche Bewältigungsstrategien und Ressourcen tragen zur Anpassung bei?
Methode
Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2020) wurde gewählt, um die subjektiven Erfahrungen der Geflüchteten zu analysieren. Sieben Leitfadeninterviews mit ukrainischen Geflüchteten wurden durchgeführt. Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte nach dem Kriterium, dass sie seit dem Ausbruch des Krieges in Deutschland leben. Die Interviews wurden in ukrainischer Sprache geführt, um Sprachbarrieren zu vermeiden. Anschließend erfolgte die Transkription und Auswertung der Interviews. Ziel war es, zentrale Themen und Herausforderungen zu identifizieren, die das psychische Wohlbefinden der Teilnehmer beeinflussen.
Ergebnisse
Die Analyse der Interviews führte zu einer detaillierten Darstellung der individuellen Erfahrungen und Herausforderungen geflüchteter Ukrainer*innen. Folgende zentrale Ergebnisse wurden identifiziert:
1. „Schwebezustand“ und Unsicherheit
Viele Teilnehmer berichteten von einem ständigen Gefühl der Unsicherheit, sowohl in Bezug auf ihre gegenwärtige Lebenssituation als auch hinsichtlich der Zukunft. Dieses Gefühl des „Schwebens“, das durch die Unsicherheit über die Rückkehr in die Ukraine verstärkt wurde, beeinträchtigte die Fähigkeit, klare Entscheidungen zu treffen.
Beispiel: „Wir leben in einem ständigen Zustand der Unsicherheit, wissen nicht, ob wir zurückgehen oder bleiben. Das beeinflusst jede Entscheidung“
2. Bürokratische Herausforderungen und psychische Belastungen
Die bürokratischen Prozesse in Deutschland wurden als große Belastung empfunden. Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Anträgen und das Unverständnis der Bürokratie führten zu Angst und Frustration, was sich negativ auf das psychische Wohlbefinden auswirkte.
Beispiel: „Es ist, als ob man in einem fremden System gefangen ist und nicht weiß, wie man es navigieren soll“
3. Berufliche Perspektiven als Schlüssel zur Stabilität
Die Teilnehmer betonten, dass eine klare berufliche Perspektive von entscheidender Bedeutung für ihr psychisches Wohlbefinden ist. Personen, die bereits in den Arbeitsmarkt integriert waren, berichteten von einem Gefühl der Stabilität und Kontrolle, während diejenigen ohne berufliche Perspektive Angst und Depressionen erlebten.
Beispiel: „Arbeit zu haben, gibt mir das Gefühl, wieder nützlich zu sein, und hilft mir, mich hier zu integrieren“
4. Sprachbarrieren
Sprachprobleme wurden von fast allen Teilnehmern als eines der größten Hindernisse für die soziale und berufliche Integration beschrieben. Viele berichteten, dass das langsame Vorankommen in Sprachkursen ihren Fortschritt bei der Integration behindert und zu einem Gefühl der Isolation beiträgt.
Beispiel: „Wenn ich besser Deutsch sprechen würde, hätte ich keine Angst, auf Menschen zuzugehen und mich zu unterhalten“
5. Soziale Unterstützung und ihre ambivalente Wirkung
Soziale Unterstützung spielte eine Schlüsselrolle im Anpassungsprozess, wurde aber auch als ambivalent wahrgenommen. Während einige Teilnehmer die Unterstützung durch Freunde und Familie als hilfreich empfanden, berichteten andere, dass sie sich durch die Abhängigkeit von diesen Netzwerken schwächer fühlten.
Beispiel: „Es ist gut, Unterstützung zu haben, aber manchmal fühlt es sich an, als würde ich die Verantwortung für mein Leben abgeben“
6. Individuelle Bewältigungsstrategien und Resilienz
Viele Teilnehmer zeigten eine bemerkenswerte Resilienz und entwickelten individuelle Bewältigungsstrategien. Einige konzentrierten sich darauf, die Kontrolle über Aspekte ihres Lebens zu übernehmen, die sie beeinflussen konnten, wie das Erlernen der Sprache oder die Suche nach Arbeit. Andere betonten die Bedeutung innerer Ressourcen wie Glauben, Hoffnung und Akzeptanz.
Beispiel: „Ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was ich kontrollieren kann – wie meine Kinder und die Arbeit – und die Unsicherheiten zu akzeptieren“
Interpretation der Ergebnisse
Die Ergebnisse dieser Studie stimmen mit bestehenden Forschungen über die Auswirkungen von Kriegstraumata und migrationsspezifischen Stressoren auf die psychische Gesundheit von Geflüchteten überein (Steel et al., 2009). Traumatische Erfahrungen, wie die während des Krieges und der Flucht erlebte Gewalt, beeinflussen die psychische Gesundheit erheblich und führen zu PTBS-Symptomen wie Schlaflosigkeit, Angstzuständen und emotionaler Taubheit. Berufliche Perspektiven und soziale Unterstützung wurden als zentrale Schutzfaktoren identifiziert, die das psychische Wohlbefinden stabilisieren können, was die Bedeutung der beruflichen Integration als therapeutischen Ansatz unterstreicht (Berry, 1997).
Besonders auffällig ist die Ambivalenz der sozialen Unterstützung: Während sie einerseits eine wertvolle Ressource darstellt, kann eine übermäßige Abhängigkeit von Unterstützungssystemen zu einem Verlust von Selbstwirksamkeit und Eigenständigkeit führen (Schmitt et al., 2014). Sprachbarrieren sind ein erheblicher Stressor, der nicht nur die soziale Integration erschwert, sondern auch zu Isolation und mangelndem Selbstvertrauen führt.
Implikationen für die Praxis und Ausblick
Die vorliegende Studie zeigt, dass traumatische Erfahrungen und berufliche Perspektiven einen wesentlichen Einfluss auf die psychische Gesundheit geflüchteter Ukrainer haben. Es wird deutlich, dass gezielte, flexible und ganzheitliche Unterstützungsmaßnahmen notwendig sind, die sowohl die körperliche als auch die psychische Verfassung und den beruflichen Stand der Geflüchteten berücksichtigen. Ein personalisiertes Unterstützungsangebot, das auf individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und Bewältigungsstrategien basiert, könnte den spezifischen Bedürfnissen dieser Gruppe besser gerecht werden.
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Entwicklung eines umfassenden Messinstruments zur Erfassung der psychosozialen und beruflichen Situation von Geflüchteten entscheidend ist. Dieses Instrument sollte flexibel genug sein, um sich an sich ändernde Umstände und Kontexte anzupassen, wie beispielsweise den fortgesetzten Krieg und rechtliche Veränderungen. Es sollte auch soziale Determinanten der Gesundheit und Integration einbeziehen, um ein tieferes Verständnis der Herausforderungen der Geflüchteten zu ermöglichen.
In der Praxis ist eine differenzierte Betrachtung der Geflüchteten erforderlich, die sowohl ihre Resilienz als auch ihre Verletzlichkeiten berücksichtigt. Weder das Bild des hilfsbedürftigen, traumatisierten Flüchtlings noch das des resilienten Geflüchteten ist ausreichend für eine umfassende Unterstützung. Stattdessen sollten psychotherapeutische Interventionen kultursensibel sein und den gesamten Menschen als Individuum mit Stärken und Schwächen in den Blick nehmen.
Der therapeutische Ansatz des Generational Linking anstelle des rein traumafokussierten Arbeitens kann Resilienz in der Familienstruktur fördern, indem generationsübergreifende Stärken und Bewältigungsstrategien integriert werden. Niedrigschwellige, psychoedukative Unterstützungsangebote sowie Reflexion und alternative Bewältigungsstrategien, wie emotionale Akzeptanz, könnten ebenfalls helfen, das Wohlbefinden der Geflüchteten zu fördern.
Zukünftige Forschung sollte die Auswirkungen sozialer Unterstützung auf die Resilienz, den Druck der „Turbointegration“ in den Arbeitsmarkt und den Zugang zu Sprachkursen weiter untersuchen. Auch individuelle Faktoren, wie die kulturelle Nähe und der Einfluss fortgesetzter Kriegserfahrungen, erfordern eine tiefergehende Betrachtung, um den Anpassungsprozess und dessen Dynamik besser zu verstehen und die Entscheidungen der Geflüchteten zum Verbleib oder zur Rückkehr fundiert zu unterstützen.
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